Predigt 1. So. nach Epiphanias - Pfarrer Björn Thiel (10.01.2021)

Predigttext Röm. 12,1-8
Ich habe euch vor Augen geführt, Geschwister, wie groß Gottes  Erbarmen ist. Die einzige angemessene Antwort darauf ist die,  dass ihr euch mit eurem ganzen Leben Gott zur Verfügung stellt  und euch ihm als ein lebendiges und heiliges Opfer darbringt, an  dem er Freude hat. Das ist der wahre Gottesdienst, und dazu  fordere ich euch auf. Richtet euch nicht länger nach den  Maßstäben dieser Welt, sondern lernt, in einer neuen Weise zu  denken, damit ihr verändert werdet und beurteilen könnt, ob  etwas Gottes Wille ist – ob es gut ist, ob Gott Freude daran hat  und ob es vollkommen ist. Ich rufe daher aufgrund der  Vollmacht, die Gott mir in seiner Gnade gegeben hat, jeden  Einzelnen von euch zu nüchterner Selbsteinschätzung auf. Keiner  soll mehr von sich halten, als angemessen ist. Maßstab für die  richtige Selbsteinschätzung ist der Glaube, den Gott jedem in  einem bestimmten Maß zugeteilt hat. Es ist wie bei unserem  Körper: Er besteht aus vielen Körperteilen, die einen einzigen  Leib bilden und von denen doch jeder seine besondere Aufgabe  hat. Genauso sind wir alle – wie viele und wie unterschiedlich  wir auch sein mögen – durch unsere Verbindung mit Christus ein  Leib, und wie die Glieder unseres Körpers sind wir einer auf den  anderen angewiesen. Denn die Gaben, die Gott uns in seiner  Gnade geschenkt hat, sind verschieden. Wenn jemand die Gabe  des prophetischen Redens hat, ist es seine Aufgabe, sie in  Übereinstimmung mit dem Glauben zu gebrauchen. Wenn  jemand die Gabe hat, einen praktischen Dienst auszuüben, soll    er diese Gabe einsetzen. Wenn jemand die Gabe des Lehrens  hat, ist es seine Aufgabe zu lehren. Wenn jemand die Gabe der  Seelsorge hat, soll er anderen seelsorgerlich helfen. Wer andere  materiell unterstützt, soll es uneigennützig tun. Wer für andere  Verantwortung trägt, soll es nicht an der nötigen Hingabe  fehlen lassen. Wer sich um die kümmert, die in Not sind, soll es  mit fröhlichem Herzen tun.


Niemand muss sich schämen … und niemand hat einen Grund,  überheblich zu sein. Das ist eine Erkenntnis aus der  anschaulichen Metapher, die Paulus benutzt, um unser  Verhältnis zu Jesus Christus und die Beziehung untereinander zu  erläutern. So unterschiedlich wir auch sein mögen, leidet  jemand unter uns, dann leiden alle anderen mit. Fällt einer  unter uns aus, dann funktioniert der ganze Körper nicht mehr  wie gewohnt. So unwichtig sich jemand fühlen mag – er ist es  nicht! Und so wichtig sich jemand fühlen mag – er ist es! Aber  eben nicht nur er, sondern alle anderen auch. Im Grunde  genommen sollte das kein spezifisch christliches  Gesellschaftssystem sein. Es ist ein zutiefst menschliches und    müsste deshalb weltweit gelten, ganz gleich welcher Kultur ein  Volk anhängt. Allerdings wissen wir, dass dem nicht so ist. Noch  nicht einmal hier im christlich geprägten Europa finden wir eine  solche Gesellschaft vor, auch wenn wir es in Verfassungen  schreiben, durch Deklarationen verabschieden und bei  Feiertagsreden betonen. Wir leben in einer Welt, die  Unterschiede macht und die Menschen diese Unterschiede  spüren lässt. Natürlich bemühen wir uns um ausgleichende  Gerechtigkeit, um Chancengerechtigkeit, um die Würde jedes  Einzelnen … Doch wir brauchen nur in die Flüchtlingslager in  Griechenland und anderswo im zivilisierten Europa zu schauen,  um ernüchternd festzustellen, dass wir daran scheitern.

Dabei stecken wir mitten in einer Krise, die uns das genaue  Gegenteil klar vor Augen führen sollte. Corona und seine Folgen  hat uns so deutlich wie lange nicht mehr gezeigt, wie vernetzt  unser Alltag ist, auch ohne Internet. Es gibt keinen Bereich in  unserem Leben, der autark ist, also völlig unabhängig. Die  Klimaerwärmung hat uns noch zu viel Zeit gelassen, als dass wir  darauf in angemessener Weise reagiert hätten. Obwohl auch da    schon die Konsequenzen zu spüren sind, doch sind die –  zumindest in unseren Breitengraden – noch händelbar. Aber  beim Virus ist das anders. Es bleibt keine Zeit für Ausflüchte,  keine Zeit für lang zu diskutierende Pläne, keine Zeit für  Strategien, die allen Lobbyisten gerecht werden mag. Plötzlich  stehen wir vor einer Herausforderung, die nicht nur keine  Grenzen kennt, sondern uns darüber hinaus dermaßen unter  Druck setzt, dass wir gezwungen sind, auf die üblichen  Mechanismen zu verzichten. Und schon merken wir, wie anfällig  wir sind, wie unsicher das Leben ist, wie sehr wir vieles zu  selbstverständlich genommen haben. Jedenfalls sollten wir das  erkennen … Doch selbst in dieser Krise gibt es immer noch  Gewinner und Verlierer, bleiben gesellschaftlichen  Unterschiede bestehen, ja in manchen Bereichen wie z.B. der  Schulbildung vergrößert sich die Diskrepanz zwischen Anspruch  und Wirklichkeit teilweise massiv. Die Folgen sind noch gar  nicht abzusehen …

Niemand muss sich schämen … und niemand hat einen Grund,  überheblich zu sein. Wir wären töricht, würden wir als    Kirchengemeinde beanspruchen, dem in vollem Umfang  gerecht zu werden. Auch Christen sind nur Menschen und damit  ebenso den Untiefen und Irrtümern des Lebens ausgeliefert wie  alle anderen auch. Genau darum erinnert Paulus die Gemeinde  in Rom ja daran, wie es sein sollte. Die Frage ist darum, wie  Rom reagiert? Wie reagieren wir, wenn wir diesen Text hören?  Nicken wir zustimmend? Macht er uns nachdenklich? Und falls  wir ihm etwas abgewinnen können: Ändern wir dann etwas in  unserem Leben? Immerhin gibt es ja nicht nur die horizontale  Ebene, also das Miteinander von Mensch zu Mensch.  Voraussetzung ist die vertikale: “durch unsere Verbindung mit  Christus” sind wir ein Leib. Das heißt, unser Glaube schenkt uns  schon die Erfahrung der Gemeinschaft mit Gott. Jeder unter uns  wird das anders denken, spüren, interpretieren … Aber wir  feiern gemeinsam Gottesdienst (wenn wir können und dürfen),  weil wir eine Ahnung davon haben, weil wir darauf hoffen, weil  wir uns dieser Verbindung mehr oder weniger bewusst sind.  Darum wenden wir uns im Gebet an Gott, darum hören wir sein  Wort, darum lassen wir uns segnen. Und natürlich wollen wir    etwas mitnehmen in unseren Alltag, gestärkt und auch  gesendet werden in eine Welt, die uns immer wieder vor große  Herausforderungen stellt. Diese Gemeinschaft soll über den Ort  der Kirche und die Zeit des Gottesdienstes hinaus ihre Wirkung  entfalten.

Das kann sie aber nur, wenn wir uns von ihr leiten lassen. Gott  will nicht bei jedem Einzelnen von uns stehen bleiben. Seine  Verbindung mit uns zielt über die Beziehung Gott – Mensch  hinaus und strebt nach der Gemeinschaft Mensch – Mensch.  Und so wie Gott keinen Unterschied zwischen uns macht, wenn  es um seine Zuwendung und unser Ansehen geht, so soll es  auch unter uns keinen Unterschied geben. Gerade weil wir so  verschieden sind, sind wir wichtig, auch füreinander! Das gilt für  Katholiken und Protestanten. Das gilt für Alte und Junge. Das  gilt für unseren Nachbarn und den Flüchtling auf Moria. Das gilt  für jedes Geschöpf auf Erden, das durch Gottes Liebe lebt. Und  genau das gilt es zu entdecken und im Alltag zu leben. Das  meint Paulus wohl, wenn er uns schreibt, dass wir uns mit  ganzen Leben Gott zur Verfügung stellen und uns ihm als ein    lebendiges und heiliges Opfer darbringen sollen, an dem er  Freude hat. “Das ist der wahre Gottesdienst, und dazu fordere  ich euch auf.”