Predigt 4. Sonntag n. Trinitatis - Pfarrerin Ulrike Wortmann-Rotthoff (27.06.2021)

Predigt zu 1. Buch Mose 50,15-21 4.n. Trinitatis 26.6.21 Leeden

Liebe Schwestern und Brüder! - absichtlich rede ich Sie heute so an: Liebe Schwestern und Brüder!

Ein Wimmelbild auf dem Programm- Vermutlich haben Sie leicht irritiert geschmunzelt: Sowas gibt’s also nicht erst seit ein paar Jahren in unseren Kindergärten!

Und es erfordert heute genau so viel Konzentration von uns, die entscheidenden Details in dem ganzen Gewusel zu finden und den roten Faden auch. „Haben Sie eine Idee, um welche biblische Geschichte es hier gehen könnte?“ Nein. Ich auch nicht. Das hätte ich auch nicht erkannt ohne Bildunterschrift! Und nein: ich verrate es jetzt auch noch nicht:

Wir sehen die zweite Lebenshälfte eines Mannes, der Karriere gemacht hat. Vielleicht wurde das Bild deswegen von einem jungen Florentiner Bankier in Auftrag gegeben, weil dieser hoffte, ein ähnlich erfolgreiches Leben vor sich zu haben.

Der Maler Jacopo da Pontormo hat diesen Aufstieg eindrucksvoll in Szene gesetzt – genauer gesagt in vier Szenen auf einem Bild.

Und damit finden wir vielleicht den roten Faden: Der Erfolgreiche – „der Prinz“ – er kommt viermal vor in diesem Wimmelbild:

Jedes Mal erkennt man ihn an seiner roten Kopfbedeckung Vorne links hat er sie höflich abgesetzt, weil er einem weit Höhergestellten den unterwürfig knieenden alten Mann vorstellt, für den er um Asyl in einem fremden Land bittet.

Als er dann selbst zum zweitmächtigsten Mann im Land avanciert ist, beugt er sich huldvoll zu Bittstellern: Das sehen wir unten rechts. Da hat er die rote Kappe auf, wir erkennen ein gelbes Untergewand und einen hell- violetten Überwurf.

Bittende haben sich angestellt, stehen Schlange für die Vorräte, die er den Notleidenden austeilen kann. Er ist es, der darüber entscheidet, ob andere hungern müssen.

Und weiter geht sein Aufstieg, buchstäblich – die Treppe hinauf führt der Prinz seine beiden Söhnen – den einen noch an der Hand Eine Familiengeschichte ist es also auch… Oben angekommen, versammelt sich die Familie gerade um ein Sterbebett. Ganz rechts außen sieht man den Mann mit der roten Kappe – jetzt ist das Obergewand herunter gerutscht: Die Familie verabschiedet sich vom alten Patriarchen. Der wird seine beiden Enkel segnen und danach auch seine zwölf Söhne. Die aber sind – bis auf unseren Mann – am Lager des Vaters – nirgends zu sehen:

Vielleicht verstecken sie sich in der Menge der Hungernden. Vielleicht stehen einige von ihnen im Hintergrund. Erkennen kann man sie nicht. Denn die im Dunkeln sieht man nicht…? Spielen die Geschwister denn keine Rolle mehr im Leben des Mannes, der endlich oben angekommen ist?

Sie bleiben unsichtbar in der Darstellung auf diesem Renaissance- Gemälde. Für sie ist kein Platz in seiner Erfolgsgeschichte. Und auch wenn Sie jetzt langsam eine Ahnung haben, um welche biblische Geschichte es geht: Es ist auch unsere Geschichte! Darum übertragen wir das prächtige Gemälde von Jacoba da Potorma in das Gewimmel unserer Tage:

„Einer ist der Prinz und die anderen liegen ihm zu Füßen.“

Es kann auch eine Prinzessin sein – selbstverständlich. Mit dem Thema haben wir alle reichlich Erfahrung. Und auch unser Assoziationsgemälde dazu würde wohl sehr weitläufig….

„Einer ist der Prinz“, das kennt man. Manchmal ist der kleine Bruder der Prinz, manchmal der Kollege in der Firma, manchmal die Nachbarin. Beim Schulanfang sieht erkennt man sie sofort, die kleinen Prinzessinnen und Prinzen, die es heutzutage dann ganz besonders schwer haben, sich in einer Gemeinschaft einzufügen, ihre Rolle zu finden, sich wohl zu fühlen… Viel zu lange hatten wir Familien mit nur einem Kind, das sich dann eben umgewöhnen muss… Viel zu sehr haben wir in unserer Erwachsenenwelt vor allem von Selbstverwirklichung gesprochen, das ICH gepflegt und das WIR in den Hintergrund treten lassen… es sozusagen hinten an gestellt in die Warteschlange…

Der Prinz – und auch die Prinzessin, die kriegen meistens, was sie wollen. Dienstleistungsmentalität wird da gezüchtet, von Anfang an. Der Prinz – und auch die Prinzessin, die wissen, wie man sich bei denen, die Einfluss haben, lieb Kind macht. Setzen – im Bild gesprochen – die rote Kappe höflich ab, wenn’s nützlich ist.

Die anderen müssen zusehen bei ihrem unaufhaltsamen Aufstieg. Manchmal ist das nur anstrengend, aber richtig weh tut es unter Geschwistern. Wer sich in der Kindheit ungerecht behandelt fühlt, vergisst das nicht. Im Gegenteil. Oft wird es schlimmer mit zunehmendem Alter. Alle Gefühle von Ungerechtigkeit und Zurücksetzung sind wieder da. Und all die Fragen.

„Wurde unsere Schwester wirklich mehr gemocht als wir? Oder hat es nur so ausgesehen?“ „Warum hat unser Bruder den Betrieb allein geerbt und nicht wir alle zusammen?“ „Hatten wir anderen diese Zuneigung nicht verdient?“ Wenn man das aber die Eltern nicht mehr fragen kann, weil sie inzwischen verstorben sind, muss man wohl oder übel ohne Antwort weiterleben. Und sich fragen, wem man jetzt die Schuld für das alles geben soll.

In unserer biblischen Familien - Geschichte scheint das verhältnismäßig klar, wer die Bösen und die Guten sind: Wir haben das Rätsel des Wimmelbildes gelöst: Jacobo da Potorma hat den erfolgreichen Josef gemalt.

Die Bösen sind die Geschwister, die das Lieblingskind ihres Vaters nach Ägypten verkauft haben. Sie haben sich von ihrer Eifersucht zu einem Verbrechen hinreißen lassen Sie haben ihren Vater belogen und getäuscht. Ihr Bruder Josef dagegen der ist der Gute, Edle, der unschuldig zum Sklaven wird, durch eine Intrige im Gefängnis landet, aber dann dann steigt der Prinz wie Phönix aus der Asche. Der kann es sich am Ende sogar leisten, seine ganze Großfamilie mitzuversorgen.

Eine Erfolgsgeschichte. Jedenfalls der zweite Teil. Den aber schließt das 50. Kapitel im Buch Genesis mit Sätzen ab, die uns sehr deutlich machen, dass es in unserem Gewimmel, wie vor 500 Jahren, wie zu Urzeiten schon, solche Schwarz – Weiß – Ansichten, solche Aufteilung in Die Guten – die Bösen – In Gottes Augen nicht geben darf.

1. Buch Mose 50,15-21: „Als Josef das hörte, fing er an zu weinen!“ Nein. Ich sehe da nicht die huldvolle Geste eines Prinzen. Ich höre da keine überheblichen Töne mehr. Das ist Betroffenheit. Betroffenheit – wie bei Petrus. Dem plötzlich klar wird, dass er den Mund zu voll genommen hat, dass er der Held nicht ist, den er gerne gespielt hätte. Ich sehe Betroffenheit und das Begreifen: „Ja - ich bin Teil dieses Systems, dieses Familiensystems. Ich habe dazu beigetragen, dass es so gekommen ist. Ich trage meinen Anteil an Schuld in dieser Verstrickung. und lösen… lösen können wir das allein durch unser Tun nicht…“

„Gott aber…“

Wenn wir dann auch noch das Evangelium vom heutigen Tag im Ohr haben, verliert die ganze Geschichte noch mehr von ihrer märchenhaften Eindeutigkeit. „Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?“ Einen Splitter im Auge hat auch der scheinbare „Prinz“. Josef jedenfalls hatte ja früher offenbar keine Schwierigkeiten damit, das Lieblingskind zu sein und bevorzugt zu werden. Im Gegenteil. Er zeigte seine Herrschaftsträume deutlich genug. Wo finden wir das wieder im Gegenwartsgemälde unserer eigenen Erfahrung…?

Aber – So hätte ich als Kind den Josef verteidigt: Das ist doch nicht halb so schlimm wie den Bruder zu verkaufen…! Wohl wahr- nur genau so finden wir alle in unseren Rivalitätsgeschichten die Argumente für die bevorzuget Seite. Die von uns bevorzugte Seite. Natürlich.. Der Splitter im Auge des Bruders… er ist meistens aus demselben Holz wie der in meinem eigenen Auge… Das Gegeneinanderhalten löst den Konflikt nicht. Jeder hat jedem etwas zu vergeben. Schon bei Josef und seinen Geschwistern war das so.

Lässt sich überhaupt alles ausräumen, wie es der biblische Text behauptet? Oder wird hinter der nackten Existenzangst, die Josefs Brüder zur Unterwerfung treibt So – Dass sie aus Angst einen Versöhnungswunsch des alten Vaters erfinden, eine weitere Lüge draufsatteln, eine weitere huldvolle Geste der Barmherzigkeit erzwingen.. wird da nicht sichtbar: dass wir solche Familiengeschichten menschlich kaum lösen können.. …?

Nur in ganz extremen Fällen sind Schuld und Vergebung einseitig verteilt. Im normalen Familienleben ist es meistens komplizierter. Meist sieht man die größere Schuld bei anderen und bei sich selbst die kleinere – wenn überhaupt. Man glaubt zu wissen, was man selbst verdient hätte und was dem Anderen zusteht. Nur: der andere glaubt es auch zu wissen. Bloß andersherum.

Wie gut dann zu hören: Die Bibeltexte dieses Sonntags weisen uns einen Lösungsweg, wenn wir nicht weiter kommen in unseren Plänen.. „Ihr hattet Böses geplant…“

ABER Aber Gott hat es zum Guten gewendet: Seid barmherzig, wie Euer Vater im Himmel barmherzig ist.

Das sagt Jesus Christus uns zu: Weil unser Vater im Himmel uns vergibt, uns sein Herz öffnet: barmherzig ist… Darum können wir selbst es eben auch immer wieder versuchen… Unsere Geschichte zum Guten zu wenden.

„Seid barmherzig, wie Euer Vater im Himmel barmherzig ist.“ Richtig: das ist die Jahreslosung für 2021. Dieses besondere Jahr, das noch die Lösung mancher Konfliktlagen von uns fordert.

Mit diesem Jesuswort werfe ich einen letzten Blick auf unsere Wimmelbilder. Das von Jacobo da Potorma. und das Wimmelbild, das aus unseren eigenen Erfahrungen entstanden ist vor unserem inneren Auge: Sie erinnern sich… Die im Dunkeln sieht man nicht, die Unsichtbaren kommen nicht vor, wenn einer nur die Erfolgsgeschichte malen soll… „Hab Erbarmen mit uns!“ bitten die Geschwister. „Hab Erbarmen mit uns!“ Es gibt sie bis heute, diese Bitte der Unsichtbaren. Die Unsichtbaren dieser Erde ringen um Luft in der Pandemie, während wir in Europa, schon sehr viel weiter mit dem Impfen, darüber streiten, wer von wo nach wo in Urlaub fliegen möchte.. Die Unsichtbaren spritzen in Südamerika Unkrautvernichtungsmittel auf die Rosen, die wir verschenken… Ihre Kinder schleppen Säcke mit Kakaobohnen. Und auch hier im Land verrichten sie Arbeiten, die keiner sonst machen will.

Die Unsichtbaren bieten sich nur deswegen nicht als Sklaven an, weil sie längst welche sind. Sie bleiben unsichtbar, denn keiner will so genau wissen, wie er selbst zu ihrer Not beiträgt. Fragt man die Firmen, für die sie schuften, ist das doch alles genau geregelt… im neuen Lieferkettengesetz womöglich zu genau.. Fragt man uns Kunden, ist natürlich niemand mit moderner Sklaverei einverstanden. Aber selbst die, die es sich leisten könnten, achten auf die günstigsten Preise… schon schwer, alte Gewohnheiten zu ändern… Und ist Sparsamkeit denn nicht eine ganz typische Tugend für uns??

Wenn Josef in Ägypten eines gelernt hat, dann dies: Sparsamkeit ist nur dann eine Tugend, wenn sie nicht zu Lasten von anderen geht. Josef hat Kornspeicher gebaut, nicht für seine eigenen Reserven, sondern um den Hunger zu bekämpfen. Es ging um Teilen. Um Barmherzigkeit. Am Ende hat die Bitte der Unsichtbaren auf ihn gewirkt, weil er verstanden hat, was er und was sie in Wirklichkeit sind, nämlich Kinder desselben Vaters. Ganz genau so wie wir, liebe Schwestern und Brüder – und unsere eigenen unsichtbaren Geschwister auch: Darum: Seid barmherzig, weil unser Vater im Himmel barmherzig ist.

AMEN