5. Passionsandacht „Kommen Sie mal mit...“ - Pfarrer Björn Thiel

"Kommen Sie mal mit", sagt sie und verschwindet hinter dem Perlenvorhang, der die Küche vom Wohnzimmer trennt. Zögernd stehe ich auf und folge Frau B. Die ältere Dame und ich haben uns unterhalten, bis sie energisch aufspringt und ins Wohnzimmer verschwindet. "Ich will Ihnen was zeigen." Ich folge. Schiebe den Vorhang beiseite. Die Perlen klappern. Unwillkürlich fange ich zu schleichen an. Was es wohl so Geheimnisvolles zu zeigen gibt, in diesem Wohnzimmer. Frau B. ist mit ihrem Oberkörper in einem geöffneten Schrank verschwunden. Jetzt dreht sie sich um und hält mir etwas Rechteckiges entgegen, das in ein Samttuch eingeschlagen ist. "Sehen Sie, da ist es. Mein Gesangbuch!" Sie schlägt das Tuch beiseite. "Ich habe es aus der alten Heimat, aus Rumänien, mitgebracht. Ich singe doch so gern." Sie strahlt.

Das Gesangbuch das schützt und behütet sie, es ist ihr Schatz. Das ist ihr heilig, das lässt sie nicht einfach so herumliegen. Wenn Frau B. singt - die brüchigen Seiten des alten Gesangbuches zwischen den Fingern, hält sie Zwiesprache mit Gott, grübelt über das heute, erzählt vom gestern und träumt vom morgen. Diese Stunden sind ihr heilig und wertvoll. Für Frau B. wohnt Gott irgendwie im Schrank, dort wo das Gesangbuch lagert. Wohlbehütet für besondere Tage und Stunden.


Für das Volk Israel zur Zeit Jesu wohnt Gott im Tempel zu Jerusalem. Mitten in der Hauptstadt. Mitten im Gottesvolk. Gott wohnt im Tempel und er thront hinter einem Vorhang aus "blauem und rotem Purpur", geschützt vor den Blicken der Menschen. Was heilig ist, dass lässt man nicht einfach so ungeschützt. Gott selbst befahl schon dem Mose einen Vorhang vor das Allerheiligste zu hängen: "Und du sollst den Vorhang an die Haken hängen und die Lade mit dem Gesetz hinter den Vorhang setzen, dass er euch eine Scheidewand sei zwischen dem Heiligen und dem Allerheiligsten." Gott ist Gott. Und Mensch ist Mensch. Gott ist heilig. Der Mensch ist es nicht. Wir können ihm nicht einfach ins Angesicht sehen. Gott ist und bleibt Geheimnis. Verborgen. Verhüllt. Unantastbar. Wunderbar und groß.

Es gibt so vieles, was mich unheilig macht, so vieles, was mich davon abhält Gott zu begegnen und vieles, was mich von ihm trennt. Er ist so ganz anders als ich. Ich bin nicht wunderbar und groß. Ich stehe wie vor einem Vorhang und ich komme nicht zu Gott.

Der Vorhang, der mich von Gott trennt, ist gewebt aus all dem, was mich klein macht. 

Aus meinen Taten und Untaten. Aus vielem was ich getan oder nicht getan habe. Selbstsüchtig. In Eile. Aus Versehen.

Er ist gewebt aus meinen Zweifeln. Meiner Verzagtheit. Aus vielen ungeklärten Fragen. Seiner Antwort, auf die ich warte.

Er ist durchwebt mit meiner Angst. Meinem Schmerz. Meiner unerfüllten Sehnsucht in dunklen Stunden.

Ich stehe vor diesem Vorhang und komme nicht zu Gott. 

"Und es war schon um die sechste Stunde, und es kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde, und die Sonne verlor ihren Schein, und der Vorhang des Tempels riss mitten entzwei. Und Jesus rief laut: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände! Und als er das gesagt hatte, verschied er." (Lukas 23,44f)

Gott reißt den Vorhang entzwei. Der Vorhang öffnet sich und wir bekommen einen freien Blick auf Gott. Gott am Kreuz.

Am Kreuz blicken wir Gott ins Angesicht. Von Mensch zu Mensch. 

Ich sehe den Menschen Jesus am Kreuz. Schmerz. Angst. Verzweiflung. Das ist Gott. 

Ich sehe Blut und Wunden. Tränen und Schweiß. Ich sehe den Tod. Auch das ist Gott.

Ich sehe in das Angesicht Gottes und sehe einen Sohn und seine Mutter. Maria kniet betend zu seinen Füßen. Sie sieht ihren Sohn sterben.

Der Vorhang öffnet sich und ich sehe eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Das Leiden Gottes.
Der Vorhang zerreißt und gibt den Blick frei auf das Heil der Menschheit. Das Allerheiligste. Jesus am Kreuz.

Meine Angst. Meine Zweifel. Meine Schmerzen. Gott kennt sie. Nichts gibt es mehr, was den Menschen den Weg zu Gott verstellt. Wir können nicht zu ihm er kommt zu uns.

Angst. Tod. Schmerz. Sind im Allerheiligsten angekommen. Sie sind bei Gott.

Und Frau B. und ihr Gesangbuch? Frau B. ist sich sicher, Gott versteht sie. Wenn Frau B. singt - die brüchigen Seiten des alten Gesangbuches immer noch zwischen den Fingern, hält sie Zwiesprache mit Gott, grübelt über das heute, erzählt vom gestern und träumt vom morgen. Sie weiß, diesem Gott am Kreuz ist nichts Menschliches fremd. Er kennt ihren Weg. Ihren Kummer. Und hin und wieder ihren Schmerz. Er vergibt ihr ihre Fehler. Ob sie nun aus Eigensinn, in Eile aus Versehen begangen wurden. Nichts kann sie von diesem Gott trennen. Nicht einmal der Tod. Gerade das ist es, was ihr das Herz leichter macht und diese Stunden mit Gott so wertvoll. Wunderbar und groß. Das ist es, was sie schützen will in ihrem Schrank. Das ist ihr das Allerheiligste.

Pfarrer Björn Thiel