Liedpredigt zum 4. Sonntag nach Trinitatis (05.07.2020) - Pfarrer Björn Thiel

Liebe Gemeinde!


Wir sind eingeladen, uns an Gottes schönsten Gaben zu erfreuen:

Geh aus, mein Herz, und suche Freud in dieser lieben Sommerzeit an deines Gottes Gaben; schau an der schönen Gärten Zier und siehe, wie sie mir und dir sich ausgeschmücket haben.

So beginnt das Sommerlied von Paul Gerhardt. Wir singen es in einem schönen Garten, wo man hinausschauen kann ins Freie oder hier in der Kirche mit dem freien Blick im Herzen. Und wir singen am Anfang uns selber zu, ermuntern unser Herz, sich zu freuen an all dem Schönen, das uns hier umgibt. Das alles hat Gott dir gegeben, lieber Mensch. Schau es dir an und sieh, wie wunderbar die ganze Natur geschmückt ist! Dir und mir zur Freude trägt sie ihr zierliches Kleid.

Wie wohltuend für Leib und Seele ist diese Sicht der Natur! Denn hier können wir uns an ihrem Anblick erfreuen und ihre Schönheit würdigen. Die Natur ist uns nicht nur dazu gegeben, dass wir sie für eigene Zwecke benutzen. Sie ist nicht dazu da, von uns gebraucht und beherrscht zu werden. In der Sommerzeit leuchtet an der Natur eine Schönheit auf, die keinem von uns bestimmten Zweck und Nutzen dient. Sie ist gut und schön, so wie der Schöpfer sie ausgeschmückt hat. Ein staunenswertes Wunder, ein unerschöpfliches Geheimnis.

Und jetzt erzählt der Lieddichter, was es in Gottes schöner Natur alles anzuschauen gibt:

Die Bäume stehen voller Laub, das Erdreich decket seinen Staub mit einem grünen Kleide; Narzissus und die Tulipan, die ziehen sich viel schöner an als Salomonis Seide.

Alles grünt und blüht auf der Erde, die alle Pflanzen von selbst hervorbringt. Grün ist die Farbe des Lebens und des Wachstums. Ohne den Blattfarbstoff und den Einfluss des Lichtes könnte keine Pflanze gedeihen. Die Bäume und die Blumen müssen zuerst in der nährstoffreichen Erde fest verwurzelt sein. Erst dann können sie nach oben, zum Licht hin wachsen.

Und wieder wird unser Sinn für die Schönheit angesprochen. Paul Gerhardt lehrt uns staunen: über das Kleid der Erde und die verschwenderische Pracht der Blumen, die sogar den sagenhaften Reichtum des Königs Salomo übertrifft. So die grüne Natur zu sehen in ihrer sorglosen Herrlichkeit - das können wir von Jesus lernen, wie es der Lieddichter von ihm gelernt hat (Mt 6,28-30).

Die Lerche schwingt sich in die Luft, das Täublein fliegt aus seiner Kluft und macht sich in die Wälder; die hochbegabte Nachtigall ergötzt und füllt mit ihrem Schall Berg, Hügel, Tal und Felder.

Nach den Pflanzen auf der Erde werden die Vögel des Himmels besungen. Liebe Gemeinde, schauen wir auf die Lerche und das Täublein, auf ihre gefederten Freunde, wie sie sich in die Luft erheben! Frei und ungebunden wie ein Vogel, von einem Ort zum andern dahinschweben - das weckt so manche Sehnsucht: "Wenn ich ein Vöglein wär/und auch zwei Flügel hätt',/flög ich zu dir." Aber wie kommt das Lied von Lerche und Taube auf die Nachtigall? Natürlich wegen ihrer hohen Begabung zum Singen! Ahmen wir mit unserem Gesang nicht nach, was die Natur in dieser kleinen Sängerin uns vormacht? Schon Martin Luther lobt "die liebe Nachtigall/ macht alles fröhlich überall/mit ihrem lieblichen Gesang." Gott hat sie geschaffen "zu sein die rechte Sängerin,/der Musika ein Meisterin" (EG 319,2-3).

Wenn wir mit solcher Hingabe singen könnten wie eine Nachtigall! Das wäre vollkommener Gesang: die Seele in seine Stimme hineingeben, sodass der ganze Körper klingt. Wenn einer im Gesang sich hingibt, als hätte er nur für dieses Lied gelebt, für diesen Augenblick, dann singt er oder sie wie eine Nachtigall.

Paul Gerhardt lehrt uns staunen über die Wunder, die Gott, der Herr, in der Natur geschaffen hat. Alles spricht seine Sinne an und ermuntert ihn, mit einzustimmen.

Choralbearbeitung, wer will kann die die Strophen 5-8 dabei lesen.

Ich selber kann und mag nicht ruhn, des großen Gottes großes Tun erweckt mir alle Sinnen; ich singe mit, wenn alles singt, 

und lasse, was dem Höchsten klingt, aus meinem Herzen rinnen.

Ja, liebe Gemeinde, wem das Herz voll ist von der Schönheit der Natur, dem geht der Mund über! Alle Sinne werden angesprochen, hellwach gerufen durch die überwältigende Größe dessen, was unser Schöpfer tut.

Menschen früherer Zeiten hatten dafür noch mehr Sinn als wir Heutigen, die vom Lärm der Maschinen abgestumpft sind: dass die ganze Natur tönt und klingt. Vor 350 Jahren, als Paul Gerhardt lebte, gab es noch keine Autos, keine Motorräder und keine Düsenflugzeuge. Und es gab auch noch keine Discotheken, in denen Jugendliche ihr Gehör ruinierten. Die Welt war, vor allem auf dem Lande, noch viel stiller als heute. Es ging ruhiger zu. Umso mehr war der Sinn entwickelt für die natürlichen Geräusche, Laute und Klänge.

Die ganze Natur ist voller Klang: die Sonne macht Geräusche und "tönt nach alter Weise" (Goethe), die Planeten tönen und klingen, die unbelebte und die belebte Natur. Sogar die Steine und die Fische der Tiefsee geben Töne von sich, jenseits dessen, was unsere Ohren hören, doch vernehmbar. Jede Pflanze hat ihren eigenen Klang: jeder Baum, jeder Grashalm, jede Blume. Und in diesem Gesang des Lebens mitsingen heißt: ich gebe mich weg, bin ganz hingegeben.

Das ist die Bestimmung aller Kreatur: Gott, unseren Schöpfer, zu loben. Was aus dem Herzen hervorgeht und dem Höchsten klingt - das ist Lobgesang zur Ehre Gottes. Bei solchem Singen weitet sich der innere Sinn. Ich gebe meinem Erleben Gestalt und werde empfänglich für etwas, was ich zuvor nicht wahrgenommen habe. Es geschieht etwas mit mir, wenn ich singe, was größer ist als ich. Über mich selbst hinaus führt mich das Lied, das dem Höchsten klingt.

Ist es nicht diese Erfahrung, die heute vielen Menschen fehlt? Viele Menschen hören nicht mehr auf Gott, weil sie nicht mehr hörfähig sind. Unsere Sinne werden abgestumpft, betäubt von wechselnden Eindrücken. Die Technik macht Fortschritte, aber unsere Fähigkeit, bewusst und konzentriert zu hören, verkümmert. Eine Flut von Worten dringt an unser Ohr. Aber wo wird die Seele angesprochen? Was macht uns aufmerksam und geht uns zu Herzen?

"Herz, Seele und Leib des Menschen leben vom rechten Wort zur rechten Zeit" (Eugen Rosenstock-Huessy). Doch wie oft strömt nur ein Geschwätz in unser Ohr, und wie oft werden wir freiwillig oder unfreiwillig zu Zuhörern einer Art von Unterhaltungsmusik, die die Seele beleidigt. Paul Gerhardts Lied macht mich aufmerksam auf etwas Größeres als mein Ich. Wenn ich es bewusst singe, dann werde ich dabei über mich selbst hinausgeführt. Wohin? In eine neue, verwandelte Welt:

Welch hohe Lust, welch heller Schein wird wohl in Christi Garten sein! Wie muss es da wohl klingen, da so viel tausend Seraphim mit unverdrossnem Mund und Stimm ihr Halleluja singen!   

Die Freude an der schönen Natur, deren Pracht vergeht, wird nur noch von einer höheren Lust übertroffen: in Christi Garten zu sein, im Schein des göttlichen Lichtes zu leben. Unerhörte Klänge werden da zu hören sein! In jenem Reich, in dem Christus herrscht, singen himmlische Wesen ein Loblied, dessen Klangwunder alles übersteigt, was wir kennen. Immer neu ermuntern diese Heerscharen sich gegenseitig: Halleluja - preiset den Herrn!

Liebe Gemeinde, was kann sich ein Mensch noch wünschen, der schon einen Vorgeschmack auf das ewige Leben in Christi Garten bekommen hat? Der Lieddichter wünscht sich, dass Geist von Gott, himmlischer Lebensatem in ihm wohne und er selber fest darin verwurzelt sei:

Mach in mir deinem Geiste Raum, dass ich dir werd ein guter Baum, und lass mich Wurzel treiben; verleihe, dass zu deinem Ruhm ich deines Gartens schöne Blum und Pflanze möge bleiben.

Das ist das Ziel, nach dem das Lied in jedem, der es singt, Sehnsucht wecken will. Selber wie ein Baum eine Wurzel treiben, tief in Christi Garten verwurzelt werden und darin blühen zu seinem Ruhm.

In der modernen Welt laufen wir Gefahr, unsere Wurzeln zu vergessen und ihr Wachstum zu vernachlässigen. Die meisten wollen hoch hinaus, wollen etwas erreichen und Karriere machen oder ein aufregendes, abwechslungsreiches Privatleben führen. Oft ist dann keine Zeit mehr, um innezuhalten oder gar nachdenklich zurückzublicken. Alte Bindungen bleiben auf der Strecke, Brücken hinter uns werden abgerissen, Mangelzeichen der Seele unterdrückt. Bei einer Lebenskrise merken manche dann auf einmal, wie haltlos sie im Grunde dahintreiben. Vieles wächst ohne ein festes Wurzelwerk im Leben des Einzelnen, in der Wirtschaft, in der Gesellschaft. Deshalb ist es heute so wichtig, dem Atem Gottes, dem Heiligen Geist im Leben Raum zu geben, damit der Glaube wachsen und gestärkt werden kann. Die Kraft zum Leben wie zum Glauben kommt aus den Wurzeln.

So findet unser suchendes Herz dreierlei:

  • Freude an Gottes schönen Gaben in der Natur,

  • Übereinstimmung mit allem, was zu seinem Lob erklingt, und

  • ein Ziel, wo es seine höchste Lust findet und zur Ruhe kommen kann.

Amen.