6. Passionsandacht „… im engsten Familienkreis“ - Pfarrerin Ulrike Wortmann-Rotthoff

Liebe Gemeinde,

Vielleicht hat auch bei Ihnen diese Formulierung in den letzten Tagen einen ganz anderen Widerhall  erzeugt, wenn wir sie unter den Traueranzeigen in unserer Zeitung lesen. In Zeiten der Corona- Pandemie  ist es zwangsläufig so: Nur im engsten Familienkreis und unter freiem Himmel können wir die Andacht zur  Beisetzung halten im Moment. Das ist eine zutiefst erschütternde und schmerzliche Erfahrung auch für  mich als Pfarrerin. „Das Sterben ist einsamer geworden“ titelte unsere Tageszeitung – das  Abschiednehmen und der Trauergottesdienst auch. Die Zahl der Anwesenden ist auf maximal 20 begrenzt  – und die stehen selbstverständlich mit dem gebotenen Sicherheitsabstand auf dem Friedhof. Alle Gesten  und Formen von Nähe, Trost und Zuwendung werden auf das Minimalste beschränkt. Das ist bitter.

Es fügt sich nun, dass die sechste und letzte Station, die wir in unseren Passionsandachten bedenken,  mit den Bildern des Kreuzweges von Sieger Köder aus der Kirche St. Stephanus zu Wasseralfingen auch  Jesus „… im engsten Familienkreis“ zeigt:
Es ist der tote Jesus in den Armen seiner Mutter.  Jesus, der nach dem Zeugnis des Johannesevangeliums als letztes Wort gerufen hatte:  ,,Es ist vollbracht!", der hat nun seinen Leidensweg vollbracht.  Er ist die Via Dolorosa, den Weg der Schmerzen bis zum bitteren Ende gegangen.  Aber nun ist es für ihn vorbei.  Nach einem letzten Schrei ist Totenstille eingekehrt.

 „Es ist vollbracht!" - auch für die Justizbehörden ist die Angelegenheit erledigt.
„Es ist vollbracht" denken sich wohl auch die römischen Soldaten. Sie haben ihr grausames  Henkershandwerk erledigt. Es ist vorbei. Der Delinquent ist tot.

Er wird vom Kreuz abgenommen.
"Es ist vollbracht!" werden auch die Schaulustigen sagen. Wenn Einer so endet, kann das mit dem  Messias nichts gewesen sein. Sie legen die Frage ad acta „..oder sollen wir auf einen anderen warten?!"  Der normale Alltag kann weitergehen.

,,Es ist vollbracht!" Ja, es ist vollbracht, aber nicht erledigt.  Wenn nach menschlichem Ermessen alles erledigt scheint, wirkt die Liebe Gottes weiter.  Und sie wirkt zunächst „… im engsten Familienkreis“ 

Auch bei Jesus.
Die Familie und die Freunde erfüllen einen letzten Dienst und tragen damit die Liebe über Leid und Tod  hinaus: Josef von Arimathäa lässt sich den Leichnam aushändigen und stellt seine eigene Grabstätte zur  Verfügung. Nikodemus bringt Kräuter und Öl, damit der Tote in Würde in Leintücher gehüllt in das neue  Grab gelegt werden kann.
All‘ diese Liebesdienste in moderner Form kennen wir aus unserer eigenen Bestattungskultur.  Sie sind kostbar. Sie tragen zur Menschenwürde bei.  Vielleicht merken wir das gerade schmerzlich in diesen Zeiten.

Zwischen das ,,Es ist vollbracht!" und die liebevolle Versorgung des Toten zur Bestattung hat christliche  Frömmigkeit seit dem 14. Jahrhundert eine Szene gestellt, die wir in der Bibel nicht nachlesen können: Das  Kreuzwegbild zeigt sie: „Die Pieta“ – in zahlreichen großen Kunstwerken sicher auch Ihnen bekannt.  Maria halt den geschundenen Leib ihres Kindes in den Armen.

Sieger Köder gibt dieser Szene eine besondere Ruhe und Zärtlichkeit. Schmerzensschreie und Tod sind  der Stille und Zuneigung gewichen. Der geschundene Körper des Gekreuzigten erfährt liebevolle  Behutsamkeit. Bei allem Schmerz wird die Szene durchdrungen von den Zeichen der Hoffnung und der  bleibenden Liebe Gottes.

Aber Maria trägt weiter grün - die Farbe der Hoffnung. Ihr Gesicht leuchtet vor inniger Liebe.
Sie hat keine Angst, den Toten zu berühren.
So nimmt sie intensiv Abschied.

Wir entdecken Details:
Auf Marias Schulter links sitzt eine violette Taube mit dem Ölzweig.
Sie erinnert an die Sintflut, wo sie Noah ein erstes Hoffnungszeichen brachte.
Auch hier wird sie zur Hoffnungsbotin: Gottes Treue bleibt bestehen über Flut und Leid und Tod hinaus.
Sein Bund mit den Menschen ist nicht zerbrochen. Auch am Kreuz nicht.
Das Leben beginnt ganz neu. Denn die Taube steht auch für den Heiligen Geist: Gott selbst ist noch immer  dabei - mitten im Tod. Wo alle anderen weg sind, wo wir „… im engsten Familienkreis“ beerdigen –  gerade da wo Menschen mit ihrem Leid allein zu bleiben scheinen, da ist Gott selbst nahe.

Da entdecke ich noch ein weiteres Detail: Auf der rechten Seite, noch unter der aufziehenden Morgenröte  liegen zwei Totenschädel in einer Felsspalte: Sie stehen für Adam und Eva - und damit für die ganze  Menschheit – für uns:
Jesus wird den Tod überwinden. Wir werden durch Christus erlöst.
,,Es ist vollbracht!" - aber nicht erledigt. 
Gottes Treue hört nicht auf. Seine Liebe bleibt und umschließt die Geängstigten und Sterbenden. Seine  Geistkraft tröstet die Zweifeinden und Einsamen. Gott ist den Flüchtenden und Geschundenen nahe.  Wenn nach menschlichem Ermessen alles erledigt scheint, dann vollendet Gott sein Liebeswerk und  schenkt uns Frieden.

Bleiben auch Sie so behütet! wünscht Ihre Pfarrerin Ulrike Wortmann-Rotthoff