Predigt zum 3. Sonntag nach Trinitatis (28.06.2020) - Pfarrer Björn Thiel

Liebe Gemeinde,

was für ein Projekt! Ein Fotograf macht sich auf den Weg und sucht 24 Jahre lang nach Spuren und Zeichen auf den Flügeln von Schmetterlingen. Fast ein viertel Jahrhundert heißt das für ihn: Immer wieder draußen unterwegs sein, früh morgens oder gegen Abend ausharren, ob sich die gewünschte Motte oder der prächtige Schmetterling vor der Linse zeigt. 

Wir sehen die Fotos und staunen: Wie geheimnisvoll und schön! Da hat doch jemand das "erste Alphabet" entdeckt. Lange schon war das aufgezeichnet, bevor unsere (lateinischen) Schriftzeichen entwickelt wurden. Immerhin leben Schmetterlings schon seit etwa 135 Millionen Jahren auf der Erde. Seit dieser Zeit haben sich unzählige Arten entwickelt mit kunstvoller Bemalung auf ihren Flügeln. 

Vielleicht gibt es darunter ja nicht nur Zahlen und Buchstaben wie wir sie kennen, sondern auch arabische oder japanische Schriftzeichen? Wie schön! Wie geheimnisvoll! 

Staunend sehe ich das Schmetterlingsalphabet an und ahne: Es mag noch unzählige weitere unentschlüsselte Zeichen und Wunder auf der weiten Welt geben! Als Glaubender denke ich: Das alles kann doch nicht einfach nur Zufall sein. Da muss doch ein Gedanke Gottes mit eingeflossen sein… eine Idee, ein Lächeln, ein Augenzwinkern dessen, der alles geschaffen hat.

Der Evangeliumstext aus dem Matthäusevangelium setzt ähnlich an und geht doch einen Schritt weiter. Wir hören auch dort von Wunderbarem in der Natur - von der verschwenderischen Vielfalt und Farbenpracht der Blumen, die uns ins Staunen versetzt. Dazu von Vögeln, die unter dem Himmel fliegen und ohne eigene Mühe ihr Auskommen haben. Jetzt, zur Sommerzeit, können wir das draußen jeden Tag bestaunen. Wir können uns freuen an Düften, Farben und Formen. Vielleicht haben wir das Glück und wachen mit dem Zwitschern der Vögel auf. 

Jesus meint: Wir sollen uns an der Schönheit der Natur nicht nur erfreuen. Sie soll uns von zu vielen Sorgen um unser Leben befreien. Wir sollen insgesamt entspannter werden.

Denn die Schönheit der Natur ist kein Zufall. Dahinter steht Gott, der alles erschaffen hat und weiter erhält. Er schmückt die Blumen in bunten Farben. Er lässt die Vögel sorglos singen und jeden Tag neu ihre Nahrung finden. Er gestaltet die Schmetterlingsflügel mit kunstvollen Zeichen. 

Und er ruft auch die Menschen ins Leben mit all ihren Besonderheiten: Mit großer Nase oder hoher Stirn, mit Haar, das früh ergraut, mit Sommersprossen oder mit Grübchen, mit Lachfalten und Runzeln. Kein Mensch gleicht dem anderen. Wer genau hinsieht, wird viele schöne Details entdecken:

Ein Fingerabdruck - von Anfang an einzigartig. Ein Lachen - besonders und immer wieder neu. Jede Stimme - hat ihren eigenen Klang. Auch Gedanken und Gefühle - sie sind nicht allen Menschen gleich. Dazu gibt es noch weitere "Herkunftsmerkmale" wie Hautfarben, Sprachen und Dialekte…

Die Bibel hält fest: Jeder dieser einzigartigen Menschen kommt von Gott und steht in besonderer Beziehung zu ihm. Im Psalm 8, den wir anfangs gebetet haben, heißt es: Was ist der Mensch dass du seiner gedenkst… und des Menschenkind, dass du dich seiner annimmst…

Ich stelle mir vor: Gott denkt nicht nur an den Menschen, also ist nicht nur mit dem Verstand mit dem Menschen beschäftigt, sondern hat den Menschen im Blick. Gott ist wie der ausdauernde Fotograf Kjell Sandved. Er beobachtet mit Leidenschaft all die kleinen Besonderheiten. Die schönen Details, wie groß oder klein sie auch sein mögen, nimmt er wahr und schätzt sie. Und wie er jeden Namen kennt, sieht er auch all das, was nicht sofort offensichtlich ist. Gott geht nicht darüber hinweg. Er sagt zu jedem einzelnen Menschen: Du bist für mich wertvoll, zauberhaft, kostbar - genauso wie du bist. 

Das sind keine beweisbaren Sätze. Es sind Aussagen des Glaubens. Aussagen des Lobs. In den Worten des Psalms hören wir jemanden sprechen, der gerade über Gott glücklich ist und sich geborgen weiß in einer Welt, die von dem guten Schöpfer her kommt. Für diesen Menschen wird das Plappern der Kinder zum Gotteslob. Die Muster der Schmetterlinge zeigen ihm ein Alphabet aus Gottes Hand. Die Einzigartigkeit eines jeden Lebewesen wird zum Zeichen von Gottes Fürsorge und Nähe.

Allerdings wäre auch eine andere Sichtweise möglich gewesen: Die bunte Vielfalt in der Natur kann ich als Zufall ansehen. Ich kann denken: Wenn einer täglich sein Auskommen hat, dann hat das nichts mit Gott zu tun. Das ist dann Tüchtigkeit oder vielleicht auch einfach nur Glück.

Genauso sagt der nüchterne Blick eines Biologen auf die Schmetterlingsflügel: Da ist nicht eine verschwenderische Schöpfungsmacht am Werk, sondern Evolution. In den Linien und Zeichnungen sind nicht wirklich unsere Schriftzeichen vorweggenommen. Die Muster entwickelten sich als evolutionärer Vorteil. Sie sind die "Verkleidung" der weitgehend wehrlosen Falter. Als Mimikry ahmen die Zeichen typische Merkmale anderer Arten nach. Die großen Kreise zum Beispiel sollen drohende Augen eines deutlich größeren Tieres nachbilden. Linien und grelle Farben täuschen vor, dass der Falter wie andere Tiere giftig sei. So schützen die wehrlosen Tiere effektiv sich selbst und sichern sich das Weiterbestehen ihrer Art.

Mir fällt ein: Auch Menschen nutzen eine Art Mimikry. Sie umgeben sich mit kunstvollen Verkleidungen, nicht nur zum Karneval. Verkleidungen, die meist zum Schutz da sind: Da gibt es das nach außen abweisende Gesicht, den distanziert-gelangweilten Blick und dahinter: wohlmöglich ein differenzierter Denker … Das leise Stimmchen und dahinter eine Person mit Löwenmut… Die raue, schroffe, etwas polternde Art und dahinter ein zartfühlendes Herz … 

Nicht nur Schmetterlinge, auch Menschen lassen sich allerhand einfallen, um sich zu behaupten. Durch Kleidung oder Habitus, durch ein bestimmtes Auftreten oder eine besondere Rolle kann ein Mensch gestalten, was andere von ihm sehen. Schwäche zu zeigen wird dabei möglichst vermieden.

Ist ja auch klar von Vorteil: Vor dem schwer einschätzbaren Kollegen will ich nicht zugeben, wie erschöpft und angespannt ich gerade bin. Ich überspiele meine Unsicherheit mit fröhlichem Lachen oder gebe mich professionell-distanziert als stets arbeitsbereit. Schließlich soll niemand sehen, wo ich angreifbar bin. Das ist auch nicht grundsätzlich verkehrt. Mimikry ist eine Art Kulturtechnik. Sie hilft mir im Alltag zu bestehen. 

Aber so sinnvoll diese Verkleidung im Einzelfall auch sein mag. Es ist genauso wichtig, dass jemand erkennt, wer ich wirklich bin. Der Falter lebt weiter, weil ein anderer Falter sich nicht täuschen lässt. Nur so können zwei Schmetterlinge zusammenfinden. Auch Menschen brauchen das, dass jemand sie in ihrem innersten Wesen kennt. Sie leben auf, wenn sie Freunde haben, die sie so annehmen, wie sie sind. Niemand kann nur ganz aus sich selbst heraus durch Leben gehen. 

Und wenn wir dem Zeugnis der Bibel glauben, sind nicht nur Artgenossen oder Freunde einander wirklich nah. Da ist eben auch Gott, der das Leben begleitet. Der ganz genau hinschaut. Der sich die nötigen Gedanken macht. Der helfen kann in mancher Not. Und im entscheidenden Moment auch die Kraft erneuert. - Wieder ein Gedanke, den man nicht beweisen kann. Und der manchmal schwer zu glauben ist. 

Und weil man das nicht beweisen kann, weil es immer wieder so schwer zu glauben ist, versucht es Jesus gar nicht mit logischen Argumenten. Stattdessen erzählt er von der Fülle des Lebens im Sommer. Von Lebewesen, die wunderbar leicht und schwerelos aussehen und uns im Sommer jeden Tag vor Augen sind: Von dem Sperling am Himmel. Wie leicht segelt der Sperling durch die Luft und findet sein Auskommen! Von der Lilie auf dem Feld. Wie lieblich duftet sie im Sonnenlicht und wächst, ganz von allein! Jesus erzählt dies, damit wir uns anstecken lassen von prallbunter Leichtigkeit und sorglos-luftiger Lebensfreue. 

Die Schmetterlinge hat Jesus selbst nicht erwähnt. Aber wenn so ein zarter, zerbrechlicher Falter unermüdlich von Blüte zu Blüte flattert, dann ist das an Leichtigkeit wohl mit nichts zu vergleichen. Sich an dem zauberhaften Flatterding mit den eigentümlich gezeichneten Flügeln zu erfreuen ist nicht schwer. Und, wenn es gut geht, fliegen alle Sorgen und Ängste gleich mit davon.

Aber jenseits der hellen Sommertage? Wenn nichts lebendig-leichtes in den Blick kommt. Wenn der Tag verregnet, grau und eisig daher kommt. Und ich keine Lebenszeichen mehr sehe...

Dann gibt es auch noch ein anderes Lebenszeichen. Ein Zeichen, das uns als Christen jederzeit nahe ist.

Von Martin Luther wird berichtet, dass ihm in sorgenvollen Momenten der Gedanke an die Taufe geholfen hat. Ich bin getauft - das soll er vor sich mit Kreide auf den Tisch geschrieben haben, wann immer es ihm schlecht ging. Wenn er Zweifel hatte, wenn er traurig war über Unrecht, wenn er nicht mehr weiter wusste…

Und in Erinnerung an die Taufe hat Luther sich selbst mit einem Kreuzzeichen gesegnet - jeden Morgen und jeden Abend. Sozusagen als Erinnerung daran, welches Zeichen über das Leben gestellt ist.

Seine Empfehlung für alle Christen war:

Des Morgens, so du aus dem Bette fährest, sollst du dich segnen mit dem Zeichen des Heiligen Kreuzes und sollst sagen: ‚Das walte Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist. Amen.'

Das Zeichen des Kreuzes - es steht tatsächlich über unser aller Leben:

Bei der Taufe wurde uns ein Kreuz auf die Stirn gezeichnet. Das Zeichen, dass wir zu Jesus Christus gehören. 

Das Kreuz - analog zu den vordergründig abschreckenden Zeichen auf den Schmetterlingsflügeln sehen wir es in seiner Zwiespältigkeit: Zunächst kann es abschreckend wirken, denn es erinnert an Jesu Leiden und Sterben. Es sieht aus nach Schuld und Tod. 

Von Gott her ist das Kreuz zugleich ein Zeichen des Lebens. Es zeigt uns: Gott bleibt dabei in Leid und Elend. Mit dem Kreuz Jesu verbunden sein heißt, mit ihm über den Tod hinaus ins Leben zu gehen. So wird das Kreuz zu einem Bild des Schutzes und der Annahme. 

Gott sagt: Wer mit dem Kreuz bezeichnet ist, gehört zu mir egal was sonst geschieht. Und: Das Kreuz allein genügt - alle weiteren Verkleidung und Schutzmaßnahme sind nicht nötig. Du darfst der sein, der du bist. Du musst dich nicht verstecken. Du darfst einfach zeigen, was in dir steckt.

Das Schmetterlingsalphabet ansehen, an die Schutzzeichen auf den Schmetterlingsflügeln denken und ein Kreuz mit den Fingern zeichnen. Egal ob auf der Stirn oder an der Brust, das Kreuzzeichen kann uns erinnern: 

Ja auch ich bin besonders gezeichnet. 

Ich bin gesegnet durch das Kreuz. 

Mein Leben ist mehr als Zufall und Glück. 

Gott ist es, der alles wirkt. 

Vom Anfang bis zum Ende, von A bis Z, und darüber hinaus bin ich bei ihm geborgen. Was für ein Wunder!!

Wer weiß? - Denke ich dann noch, wenn ich die vielen Fotografien der Schmetterlingsflügel sehe, die der Fotograf mit solcher Liebe zum Detail und Leidenschaft aufgenommen hat.

Vielleicht sind unsere Namen im Himmel gar nicht aufgeschrieben… vielleicht ist da eine Fotosammlung… voller lebendiger Bilder und Zeichen und wir mittendrin…

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere menschliche Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen