Predigt für den Sonntag Judika (29.03.2020) - Pfarrer Björn Thiel

„Bleibt zu Hause!“ Seitdem das Corona-Virus ausgebrochen und auch in Europa angekommen ist, ist dieser Aufruf millionenfach zu hören und zu lesen. Belegschaften von Krankenhäusern teilen via Social Media ein Foto, auf dem sie mit Plakaten darauf aufmerksam machen: „Wir bleiben für euch da! Bleibt ihr für uns zu Hause!“ Profilbilder sind mit dem Hashtag „StayAtHome“ versehen. Viele PolitikerInnen, viele Prominente äußern sich entsprechend. Sich diesem Ruf zu entziehen ist im Grunde genommen nicht möglich, sich ihm zu widersetzen töricht und durchaus gefährlich. Deshalb halte ich ihn für absolut richtig und unverzichtbar.


Dennoch ist dieser Satz nicht für jeden einfach nachzuvollziehen! „Bleibt zu Hause!“. Für die einen bedeutet er eine ungewöhnliche, sicher herausfordernde Einschränkung von alltäglichen Lebensgewohnheiten. Vergessen wir dabei aber nicht jene, denen die Decke schon in normalen Zeiten auf den Kopf fällt, die sowieso schon keine sozialen Kontakte haben … und übersehen wir nicht diejenigen, die kein Dach über den Kopf haben, deren Zuhause die Straße ist, die ihre Heimat verlassen mussten. Sie haben es eh schon schwer und müssen nun, da das öffentliche Leben heruntergefahren wird, mit noch weniger Unterstützung leben. „Für obdachlose Menschen bricht die Infrastruktur zusammen“, so fasst es ein Mitarbeiter der Hamburger Diakonie zusammen.

„Hier auf der Erde gibt es keinen Ort, der wirklich unsere Heimat wäre und wo wir für immer bleiben könnten.“ Für jene, die eh kein Dach über dem Kopf haben oder für Menschen, die sich einsam fühlen, wiegt dieser Vers aus dem Hebräerbrief nun besonders schwer … Ganz anders wirkt er sicher auf all jene, die zwar ein Zuhause haben, aber kaum noch dort sind, weil sie an anderer Stelle für uns etliche

Überstunden machen. Die Ärztinnen und Ärzte, Krankenpfleger und-schwestern, das Pflegepersonal, aber auch die Angestellten in den Supermärkten, von Post und Lieferdiensten, all jene, die dafür Sorge tragen, dass wir weiterhin gut versorgt sind.

Ja, sie machen ihren Job. Aber sie gehen dabei oft weit über das hinaus, was wir von ihnen einfordern könnten. Sie können, sie dürfen, sie wollen nicht zu Hause bleiben. Sie tun es freiwillig, weil sie sich in Dienst nehmen lassen, weil sie Verantwortung für andere übernehmen. Hoffentlich vergessen wir das nicht zu schnell wieder, wenn diese Krise einmal überstanden sein wird. Nicht vergessen lassen will der Hebräerbrief das, was Jesus auf sich genommen, das Opfer, das er gebracht hat. Er schildert es kurz, in drastischen Worten: „Weil Jesus gekommen war, um das Volk durch sein eigenes Blut zu heiligen, musste auch er außerhalb der Stadtmauern sterben.“ Für den Autor war sein Tod also nicht einfach nur ein tragischer Justizirrtum. Er sah darin – für uns kaum zu glauben – ein Akt der Versöhnung und vergleicht es mit dem Ritual des Sühneopfers. Einer übernimmt die Verantwortung für alle. Gott solidarisiert sich mit den Menschen, ein für alle Mal entscheidet er sich dafür, sie nicht an ihren Fehlern zu messen, sondern mit seiner Liebe zu ihnen. Dass dafür der qualvolle Tod eines Menschen notwendig gewesen sein soll, will auch mir kaum in den Kopf und noch weniger ins Herz. Vielleicht war das Kreuz weniger Bedingung dafür, sondern vielmehr eine unabwendbare Konsequenz. Mit seinen Worten und Taten veränderte Jesus die Welt und die Menschen … und das kommt nicht bei jedem gut an. Vielleicht war Golgatha nicht Jesu Plan, aber er hat es wohl einplanen müssen …

„Lasst uns daher zu Jesus vor das Lager hinausgehen und die Schmach auf uns nehmen, die auch er getragen hat.“ Im Hebräerbrief klingt die Nachfolge danach, mit Jesus mitleiden zu müssen. Und in der Tat hat es immer wieder Menschen gegeben, die seinen Weg bis zum äußersten in dieser Weise nachgegangen sind. Doch damit würden wir sein Wirken verkürzen. Nicht nur seine Passionsgeschichte soll uns inspirieren, ihn nachzuahmen, seinen Spuren zu folgen. In all seinem Reden und Handeln gilt es die Elemente zu entdecken, die wir in unserem Leben realisieren können. Und dazu zählt mit Sicherheit, solidarisch mit den Schwächsten der Gesellschaft zu sein, für andere Verantwortung zu übernehmen, wo es angebracht ist, barmherzig zu bleiben auch in einer unbarmherzigen Zeit, das Leben zu bewahren,  wo es gefährdet erscheint … In diesen Wochen erlebt die Menschheit ihre ganz eigene Passions-, also ihre Leidensgeschichte. Wohin sie uns führen wird? Niemand kann das im Moment sagen. Aber wenn es stimmt, dass in jeder Krise auch eine Chance innewohnt, dann liegt sie vielleicht darin, das wiederzuentdecken, was dem Leben anderer wirklich dient. Wäre das dann nicht auch ein Akt der Versöhnung?

Vielleicht … #StayAtHome … In einer Talkshow hörte ich einen Soziologen sagen, dass es das erste Mal in der Menschheit sei, dass fast die ganze Welt massive Einschränkungen hinnimmt, um das Leben der Schwächeren – der Alten und der Vorerkrankten – zu schützen. Ist dem so? Wenn ja, hätten wir einen ersten Schritt in die richtige Richtung getan.

Amen.