Karfreitag 2020, Johannes 19, 16-30 - Pfarrer Björn Thiel

Karfreitag 2020, liebe Gemeinde,

ist ein Karfreitag wie kein anderer Karfreitag. Keine Gottesdienste in unseren Kirchen - das fühlt sich schon sehr merkwürdig an. Doch der Karfreitag in diesem Jahr fällt ebenso wenig aus wie das diesjährige Osterfest.  Auch wenn wir nicht in der uns vertrauten Art zusammenkommen - begehen wir gemeinsam Karfreitag. Anders als wir es gewohnt sind und auch anders als wir es uns wünschen, aber vielleicht sogar bewusster als sonst, weil wir uns zu Hause jetzt einen ruhigen Platz gesucht haben. So geben wir dem Kreuzesgeschehen auf eigene Weise Raum in unseren Häusern und Wohnungen - wo wir leben und viele Menschen, gerade in diesen Tagen ungewohnt viele Stunden verbringen.

An Karfreitag 2020 leidet die ganze Welt. Sie leidet gemeinsam, denn wir können durch das Internet jederzeit die Zahl der Erkrankten in jedem Land dieser Erde nachverfolgen. Wir können die Zahlen nachverfolgen bis in unseren Landkreis, unsere Stadt, ja, unser Dorf. Wir sehen wie sie steigen. Wir lesen die Zahlen der Erkrankten, die der Gesundeten und mit großem Schmerz die immer größer werdende Zahl der Verstorbenen. Diese Trauer und der Schmerz spannen sich um unseren Erdball - von China über Italien, Frankreich, Spanien, Deutschland bis in die USA und inzwischen fast jedes andere Land unserer Welt.


Heute, am Karfreitag, geht es um Leben und Tod - in so vielen Ländern dieser Erde, in den übervollen Krankenhäusern und in den abgeschotteten Pflegeheimen besonders. 


Heute, am Karfreitag geht es um Leben und Tod. Wir erinnern uns: Jesus stirbt am Kreuz. 

Die Trauer nimmt heute einen großen Raum ein. Halten wir das Evangelium des heutigen Tages dagegen:


Johannes 19,16-30 

Da gab Pilatus ihrer Forderung nach und befahl, Jesus zu kreuzigen. Jesus wurde abgeführt. Er trug sein Kreuz selbst aus der Stadt hinaus zu der so genannten Schädelstätte; auf hebräisch heißt sie Golgata. Dort kreuzigte man ihn und mit ihm zwei andere, einen auf jeder Seite; Jesus hing in der Mitte. Pilatus ließ ein Schild am Kreuz anbringen, das die Aufschrift trug: "Jesus von Nazaret, König der Juden." Dieses Schild wurde von vielen Juden gelesen; denn der Ort, an dem Jesus gekreuzigt wurde, war ganz in der Nähe der Stadt, und die Aufschrift war hebräisch, lateinisch und griechisch abgefasst. Die führenden Priester des jüdischen Volkes erhoben Einspruch. "Es darf nicht heißen: ›König der Juden‹", sagten sie zu Pilatus. "Schreibe: ›Dieser Mann hat behauptet: Ich bin der König der Juden.‹"  Pilatus erwiderte: "Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben." Die Soldaten, die Jesus gekreuzigt hatten, nahmen seine Kleider und teilten sie unter sich auf; sie waren zu viert. Beim Untergewand stellten sie fest, dass es von oben bis unten durchgehend gewebt war, ohne jede Naht.  "Das zerschneiden wir nicht", sagten sie zueinander. "Wir lassen das Los entscheiden, wer es bekommt." So sollte sich erfüllen, was in der Schrift vorausgesagt war: "Sie haben meine Kleider unter sich verteilt; um mein Gewand hab! en sie das Los geworfen." Genau das taten die Soldaten.  Bei dem Kreuz, an dem Jesus hing, standen seine Mutter und ihre Schwester sowie Maria, die Frau von Klopas, und Maria aus Magdala. Als Jesus seine Mutter sah und neben ihr den Jünger, den er besonders geliebt hatte, sagte er zu seiner Mutter: "Liebe Frau, das ist jetzt dein Sohn!" Dann wandte er sich zu dem Jünger und sagte: "Sieh, das ist jetzt deine Mutter!" Da nahm der Jünger die Mutter Jesu zu sich und sorgte von da an für sie. Jesus wusste, dass nun alles vollbracht war. Und weil sich das, was in der Schrift vorausgesagt war, bis ins Letzte erfüllen sollte, sagte er: "Ich habe Durst!"  Da tauchten die Soldaten einen Schwamm in ein Gefäß mit Weinessig, das dort stand, steckten ihn auf einen Ysopstängel und hielten ihn Jesus an den Mund. Nachdem er ein wenig von dem Essig genommen hatte, sagte er: "Es ist vollbracht." Dann neigte er den Kopf und starb.

Ein geliebter Mensch stirbt. Sein Platz im Alltag bleibt leer. Das ist nur schwer zu fassen, der Schmerz oft überwältigend, manchmal grausam in seiner Heftigkeit und seiner empfundenen Sinnlosigkeit. Tief eingebrannt haben sich mir die Bilder der Verstorbenen in New York, die mit Gabelstaplern in Kühllaster verladen wurden oder die Bilder der Kolonne von Militärfahrzeugen, die in Italien die an Covid 19 Verstorbenen in entferntere Krematorien brachten, weil die ortsansässigen wegen Überlastung geschlossen waren. Wenn die Bilder auf mich schon so entsetzlich und grausam wirken, wie mögen sie erst auf Angehörigen und Familienmitglieder der Verstorbenen wirken? Kaum vorstellbar und schon gar nicht nachvollziehbar. Diese Passionszeit war und ist eine weltweite Passionszeit - das Leid scheint jetzt schon für viele unermesslich zu sein - und wir wissen nicht, was noch auf unsere Welt zukommt. Wenn das Virus Staaten und Länder überrollt, deren Gesundheitssystem wenig oder gar nicht entgegenzusetzen hat... Nicht vorzustellen.

Die Bilder dieser gewaltigen Todeswelle sind uns sehr nahe gekommen und gehen uns noch immer nah, immer näher.
 

Und sie mögen bei vielen wieder hochkommen in Anbetracht des Kreuzestodes Jesu und der Szenen, die sich währenddessen dort abspielen: Jesus, der sein Todesinstrument selber tragen muss; die Auseinandersetzung um seine Person und ihre Bedeutung zwischen Pilatus und den jüdischen Priestern, scheinbar völlig unberührt von seinem Leiden; die Soldaten, die um seine Kleidung schachern, würdeloser geht es kaum; und schließlich, fast unbemerkt, die Angehörigen, die sich unter dem Kreuz versammelt haben, die sich nicht scheuen, der unerträglichen Realität ins Gesicht zu sehen. Unter ihnen Maria, Jesu Mutter, und Johannes, geliebter Jünger. Welche Worte könnten beschreiben, wie es sich anfühlt, den eigenen Sohn, den besten Freund auf so grausame Weise sterben zu sehen. Unmenschlich, was sie da aushalten.

Da widmet Jesus ihnen beiden seine Aufmerksamkeit. Aus der Masse des Geschehens nimmt er sie beide gesondert wahr und spricht etwas wie ein Vermächtnis zu ihnen. "Als Jesus seine Mutter sah und neben ihr den Jünger, den er besonders geliebt hatte, sagte er zu seiner Mutter: "Liebe Frau, das ist jetzt dein Sohn!" Dann wandte er sich zu dem Jünger und sagte: "Sieh, das ist jetzt deine Mutter!"" Jesus löst in diesem Moment zunächst seine eigene Bindung an sie, "liebe Frau" sagt er, nicht mehr "Mutter". Er hält nicht fest, sondern nimmt Abschied; er lässt seine Lieben los und hilft ihnen damit, dass auch sie ihn loslassen können. Dann stiftet Jesus eine neue Verbindung zwischen ihnen, die sie da zusammenstehen. Inmitten von Schmerz, Trauer, Entsetzen bekommen sie eine neue Aufgabe. Statt allein mit der Situation zu bleiben, erhalten sie jeweils einen Menschen an die Seite, auf den sie ihre Augen richten können.

Damit ist die Lücke, die der Tod gerade in ihr Leben reißt, nicht gefüllt. Damit ist nicht verarbeitet, was sich vor ihren Augen abspielt. Ihr Leben wird nicht mehr dasselbe sein. Aber sie werden leben. Sie haben eine Zukunft vor sich. Und diese Zukunft deutet Jesus an. Er lenkt den ersten und vielleicht wichtigsten Schritt, hinauszugehen aus der Einsamkeit, dem Alleinsein, und füreinander da zu sein. Und Maria und Johannes nehmen seine Worte an: "Da nahm der Jünger die Mutter Jesu zu sich und sorgte von da an für sie."  Sicher ersetzt ihnen das nicht Jesus selbst. Sicher macht es seinen Tod nicht sinnvoller und die Trauer nicht weniger schmerzhaft.

Dennoch ist es unendlich wohltuend, sich in dieser Situation nicht allein zu wissen.

Der Tod wird nicht das letzte Wort haben. Es gibt eine Zukunft. Wir sind nicht hoffnungslos verloren. Diese Botschaft gibt Jesus den Seinen im Anblick noch des Todes und nicht der Auferstehung mit auf den Weg. Nehmen wir diese Botschaft der Liebe, diese Botschaft der Hoffnung an und behalten sie nicht für uns, sondern teilen sie und geben sie weiter mitten in das Leid unserer Welt. 

Amen