Predigt Sonntag Estomihi - Pfarrerin Ulrike Wortmann-Rotthoff (14. 02.2021)

Ob da wohl ein Donnerwetter was nutzt?

Ich frage mich das - nicht mal so oft bei Kindern, die irgendeinen Unfug einfach nicht lassen können. Ich frage mich das immer häufiger bei Erwachsenen, die sich nicht an geltendes Recht oder einfach an die Regeln des Anstands halten: Ob da wohl ein Donnerwetter was nutzt?
Ich bin skeptisch.
Auch bei jenem Donnerwetter, das Gott seinem Propheten aufgetragen hatte – loszulassen an seine Gemeinde in Jerusalem: „Rufe laut, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune und verkünde meinem Volk seine Abtrünnigkeit!“
Ob das etwas verändert hat?
Wichtiger als die Strenge, mit der das 58. Kapitel bei Jesaja beginnt, wichtiger als die Appelle ist das, worauf sie hinauswollen: „Gott, der HERR wird dir sagen: Hier bin ich!“ Er selbst verbirgt sich nicht, wendet sich uns zu. Und das mit ganzer Kraft. „Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten.

“ Wer etwas Durchhalten will in schwierigen Zeiten, wer auf etwas verzichten muss, etwas sein lassen soll, der wird irgendwann wie taub für die noch so richtigen Appelle. Wirksam ist eher noch: ein Ziel, eine Vision, eine Aussicht, für die es sich lohnt, sich anzustrengen.
Der Appel, den der Prophet Jesaja ausruft, gehört zu den bekanntesten biblischen Appellen:
„Brich dem Hungrigen dein Brot!“
Auch Johann Sebastian Bach hat diesen Appell umgesetzt mit den musikalischen Mitteln eines Meisters. Dennoch: Nicht allein der Appell, sondern die Vision, die dazu entstand im Gottesdienst, die zeigte Wirkung:
„Brich dem Hungrigen dein Brot und die, so in Elend sind, führe ins Haus!“
So klang es durch die vollbesetzte Leipziger Thomaskirche. Vollbesetzt mit Einheimischen und Fremden, vollbesetzt mit Gutsituierten und Obdachlosen.
Wir schreiben das Jahr 1732, die deutschen Lande waren aufgeteilt in katholische und evangelische Gebiete. Damals war Johann Sebastian Bach Kantor an der Thomaskirche. Passend zu den Themen der Sonntage hat er regelmäßig Kantaten komponiert und aufgeführt: diese eben auch.

„Brich dem Hungrigen dein Brot“ erklingt womöglich ein zweites Mal – aus aktuellem Anlass: Denn in Leipzig suchte eine große Gruppe von Flüchtlingen Quartier. Aus dem katholischen Salzburg waren sie vertrieben worden. Einige gingen nach Holland, doch die meisten fanden Aufnahme durch den toleranten König von Preußen. Sie hatten weite Wege hinter sich. Eine Gruppe von fast 1.600 Flüchtlingen kam nach Leipzig, wo sie Station machten. Dort wurden sie zwar freundlich willkommen geheißen, dennoch war es für die Stadt eine enorme Herausforderung, so vielen Unterkunft und Verpflegung zu bieten. Das kann man sich vorstellen.

Am folgenden Sonntag kamen dann nicht nur Christen aus Leipzig zum Gottesdienst, sondern auch eine große Zahl der Flüchtlinge aus Salzburg. Die Kirche war überfüllt. So erklang die Kantate in diesem besonderem „Setting“ – im gemeinsamen Gottesdienst. „Brich dem Hungrigen dein Brot und die, so in Elend sind, führe ins Haus“ – der Auftakt der Kantate wird sehr viel mehr als schöne Musik.

Was der Chor in Leipzig damals vor 300 Jahren den Menschen zugerufen hat, ist schon viel, viel älter. Jesajas Worte sind es, die mit einem Donnerwetter beginnen und in der Vision der Heilung münden: Ursprünglich sind sie an Menschen gerichtet, für die eine lange Zeit der Gefangenschaft in Babylonien beendet ist. Sie sind wieder frei. Der Wiederaufbau hatte begonnen. Das Leben lief wieder in gewohnten Bahnen.
Aber etwas fehlte doch: Innere Leere machte sich breit. Es gibt keine Visionen, keine Hoffnung für die Zukunft, es fehlte die Begeisterung: sie haben ein spirituelles Problem, würden wir sagen: Gott schien ihnen in unnahbarer Ferne. Also besann man sich auf bekannte fromme Übungen: man begann ein Fasten. Der Prophet Jesaja entlarvt das als wirkungslos: „Siehe, wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr und schlagt mit gottloser Faust drein. Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr es jetzt tut.“ Was Gott gefällt, was Euch im näherbringt, ist einfach beschrieben: „Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast! Gib frei, die du bedrückst! Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!“

Klare Worte sind das: Gottes Verheißung gilt denen, die für das Recht aller eintreten. Verzichten darf kein Selbstzweck sein, sondern solidarisches Handeln für und in der Gemeinschaft. Ganz einfach: teilen!
„Dann wird Gott sagen: Hier bin ich.
Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte,
und deine Heilung wird schnell voranschreiten.“

Wir hören das im Februar 2021.
Diese Botschaft ist so klar wie vor 2500 Jahren, die Herausforderung ist so greifbar wie in Leipzig vor 300 Jahren. In den zurückliegenden Monaten ist die Not der Geflüchteten nicht geringer geworden: unser Blick war nur woanders. Wir erleben eine Krankheit mit erschreckenden Langzeitwirkungen: körperliche und seelische. Und wir sehen alte Menschen, die sehnsüchtig darauf warten, wieder besucht zu werden, aus ihrer Isolation herauszukommen. Manche Familien sind infolge der Pandemie in eine wirtschaftliche Schieflage geraten, auch sie brauchen mehr als materielle Unterstützung. Auch bei uns gibt es Kinder, die zu Hause in schwierigen Verhältnissen leben und in der Schule den Anschluss verlieren. Dringend brauchen sie ein offenes Ohr und Hilfe auf ihrem Weg. Die Not ist nicht weit weg. Wir müssen uns nur umschauen.

Manche entgegnen: „Ich brauche doch selbst Hilfe!“ Ja, so ist es. Oft ist in uns selbst beides: Wir brauchen Unterstützung und können gleichzeitig andere stützen: teilen eben. Das wäre ein Ziel, für das sich Verzicht und Anstrengung lohnen: Menschen, die sich gegenseitig helfen, die die Not der anderen sehen und zugleich Hilfe in Anspruch nehmen können.

Dazu braucht es kein Donnerwetter. Dazu braucht es Gottes Segen. AMEN

Einen gesegneten Sonntag - und bis bald im Gottesdienst! wünscht Ihre Pfarrerin Wortmann-Rotthoff